Ich war elf, als mir seine Romane in die Hände fielen ... und mich über Jahrzehnte hinweg nicht mehr losließen. Während eines Campingurlaubs in Kärnten griff ich zum ersten Mal in meinem Leben zu Romanheften, aus dem einfachen Grund, dass ich alle Comics, die der Kiosk des Campingplatzes anbot, bereits gekauft und ausgelesen hatte ... Bis dahin hatte ich neben Comics hauptsächlich Karl May und andere Jugendbücher verschlungen. Für Gruseliges hatte ich mich schon immer erwärmen können, hatte ich doch bereits mit acht Jahren meine Eltern stundenlang bekniet, den Christopher Lee-Dracula im Spätprogramm des Fernsehens erleben zu dürfen. Der sehr direkte Horror der Heftromantitelbilder kam mir ungeheuer erwachsen und verlockend vor und weckte die schaurig-schönsten Erwartungen. Mein Vater, ein Gelegenheitsleser von Krimi- und Westernheften, hegte glücklicherweise keinerlei Abneigung gegen den billigen Lesestoff und ließ sich gerne dazu überreden, mir zwei Romane der Serie „Silber Grusel Krimi“ zu kaufen. Beide Schmöker waren von Dan Shocker verfasst, und in beiden kämpfte der sympathische blonde James Bond-Verschnitt Larry Brent gegen seinen schlimmsten Gegner: Dr. Satanas, ein Über-Verbrecher, wie er mir aus den Superhelden-Comics vertraut war, halb Roboter, halb haariges Monstrum.
Von diesem Tag an war ich Dan Shocker mit Haut und Haar verfallen. In den folgenden Jahren las ich über 200 Romane aus seiner Feder. Auch die Werke anderer Schreiber fesselten meine Faszination, zugegeben, von Altmeistern der Phantastik wie Poe, Lovecraft und Bradbury bis hin zu Jürgen Grasmücks Kollegen aus der Romanheft-Fabrikation.
Doch keiner wusste mich so zu bannen wie der Mann, dessen Name Programm war: Dan Shocker.
Was machte seine Geschichten so einzigartig? Sie waren nicht perfekt – sein Stil war zwar intelligent, anschaulich und flüssig, hatte jedoch einen Hang zu leeren Phrasen, seinen Helden haftete viel Stereotypes an, und sie entwickelten sich kaum weiter.
Aber:
Dan Shockers Romane waren voller Energie. Und voller Ideen. Sie sprühten davon. Seine Ideen waren gut, sie waren neu, und sie waren menschlich. Womit seine Kollegen fünf Hefte gefüllt hätten, das packte er in ein einziges. So klischeehaft seine Helden sein mochten, so komplex präsentierten sich die anderen Figuren in seinen Geschichten. Niemals war jemand einfach nur böse, weil er böse war. Immer gab es Hintergründe, Umstände, Schicksale. Seine Charaktere waren enttäuscht vom Leben, verbittert, aber oft auch neugierig gegenüber dem Unbekannten, Okkulten, so wie der Autor selbst. Larry Brent kämpfte gegen Menschen, nicht gegen Dämonen.
Als sehr viel später die US-Serie „X-Files“ im deutschen Fernsehen anlief und ich zwei Episoden gesehen hatte, dachte ich nur: So etwas hat Dan Shocker vor zwanzig Jahren überzeugender und unterhaltsamer hinbekommen. Larry Brent-Abenteuer wie „Die Blutsauger von Tahiti“, „Dämonenbrut“, „Die Alpträume des Mr. Clint“ oder „Das Höllenbiest“ sind mir bis heute unvergessen.
Dan Shocker schrieb nicht, um Geld zu verdienen. Er schrieb, um zu schreiben, um seine Ideen loszuwerden, um Charaktere zu erschaffen und agieren zu lassen. Und das machte noch den schlechtesten seiner Romane zu einem Vergnügen. Von einer heimtückischen Krankheit seit seiner Jugend an den Rollstuhl gefesselt, lebte er sein Leben in seinen Romanen. Sein Hunger nach Leben spiegelte sich in seinen optimistischen, leichtherzigen Hauptpersonen, wie seine Frustration und Angst sich in seinen grausamen Ärztefiguren und irrgeleiteten, machtbesessenen Zauberschülern manifestierte. Immer wieder focht er in seinen Texten selbst den Kampf gegen die Verzweiflung aus. Keiner seiner Romane war lustlose Routine, jeder war ein Ausbruch der Gefühle. Wer einen Text aus seiner Feder liest, spürt sofort, dass Romanheftautoren nicht die seelenlosen Routiniers sein müssen, als die sie oft dargestellt werden.
Noch etwas unterschied ihn von seinen Kollegen: Er interessierte sich aufrichtig für das Übernatürliche, glaubte vieles von dem, was er schrieb, war außerordentlich belesen in Themen wie Parapsychologie, Okkultismus und Präastronautik. Die Welt in seinen Romanen war für ihn mehr als nur Phantasterei. Man hatte den Eindruck, er erforsche mit seiner Literatur die Plausibilität der verschiedensten Theorien.
Ohne Jürgen Grasmück wäre ich nicht das, was ich heute bin. Ich wäre nicht nur etwas anderes, ich wäre sehr viel weniger. Er hat mein Leben bereichert und gefüllt.
Ich gestehe: Sein Tod am 7. 8. 2007 hat mich nicht sehr überrascht, denn ich hatte schon seit vielen Jahren damit gerechnet und bin froh, dass ihm doch noch so viel Zeit (67 Jahre) blieb. Was mich bewegt und rührt, das ist Dan Shockers Leben und Werk.
Ich hatte das Glück, Jürgen Grasmück zweimal zu begegnen und wenigstens ein paar Sätze mit ihm zu wechseln. Nicht, was er sagte, beeindruckte mich, sondern wie er es sagte. Und wie er seinen Gesprächspartner dabei ansah. Liebevoll. Verständnisvoll. Ohne Falsch.
1990 erschuf ich die Parodie eines Fanclubs – einen Club für einen einzigen Roman von ihm. Der Roman trug den Titel „Im Würgegriff des Nachtmahrs“, und der Club hieß folgerichtig „EDIWDNVDSFC – Erster deutscher Im Würgegriff des Nachtmahrs von Dan Shocker Fanclub.“ Dem Club gehörten unter anderem Timothy Stahl (heute Autor und Übersetzer) und Klaus N. Frick (heute Chefredakteur von Perry Rhodan) an. Jürgen Grasmück ließ sich nicht lumpen, wurde Ehrenmitglied und machte den Spaß mit.
Machen wir uns keine Illusionen. Dan Shocker wird nie zu den großen Literaten dieses Landes erhoben werden. Aber die, die seine Romane gelesen haben, und die, die ihn selbst erleben konnten, haben das wichtigste von ihm geschenkt bekommen, was man erhalten kann: Die Lust zu lesen, und den Mut zu leben.
Und weil ich Jürgen Grasmück kennen gelernt habe, weiß ich, dass es das ist, wovon Gruselromane handeln – vom Mut zu leben, ganz gleich, was einem zustößt.
Ruhe in Frieden, Jürgen Grasmück. Ich begegne dir jede Stunde, in der ich schreibe.
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